Zuviel „kriegstüchtig“ kann kriegssüchtig machen
Zu den Anfängen eines neuen deutschen Militarismus
Die jüngste deutsche Geschichte ist durch zwei Daten gekennzeichnet – 1918 und 1945 –, die für außerordentliche, katastrophale Misserfolge des Militarismus stehen, unter anderem. Die meisten Staaten haben Armeen, viele sogar beträchtliche. Aber Militarismus ist natürlich etwas anderes: Im Wesentlichen steht der Begriff für ein Syndrom: eine Art von Politik und Kultur – ein integriertes Zeitgeistbündel, wenn man so will –, die die öffentliche Bedeutung, das soziale Prestige und die politische Macht des Militärs einer Gesellschaft auf pathologische Weise überhöhen.
Sowohl das Deutschland vor dem Ersten Weltkireg als auch das vor dem Zweiten waren eindeutige Fälle dieser gesellschaftlich-politischen Pathologie, und beide zahlten teuer dafür, mit massiven Niederlagen in Kriegen, die Berlin – zunächst mit maßgeblicher Beteiligung anderer, dann ganz allein – begonnen hatte. Die Geschichte kann ein strenger Lehrmeister sein, und in diesem Fall waren die Lektionen, die sich Deutschland selbst zuzuschreiben hatte, nicht nur schmerzhaft, sondern wurden auch immer härter: 1918 war ein schwerer Rückschlag, der zu einem Regimewechsel, einer tiefen Wirtschaftskrise und anhaltender Instabilität führte; 1945 war eine totale Niederlage, die mit einer nationalen Teilung und einer massiven geopolitischen Herabstufung einherging, die für immer andauern sollte. So schien es zumindest.
Als die beiden nach 1945 entstandenen deutschen Staaten 1990 vereinigt wurden, wusste jeder, der auch nur ein bisschen Geschichtsbewusstsein hatte, dass sich die Dinge wieder fundamental verändern würden. Rein verfassungsrechtlich gesehen ist das neue Deutschland allerdings in der Tat nur eine größere Version des früheren Westdeutschlands; das frühere Ostdeutschland wurde einfach absorbiert.
Doch in jeder anderen Hinsicht – einschließlich der politischen Kultur, der Geopolitik und der Bedeutung deutscher Identität – konnte diese größere Version des alten Westdeutschlands nur von historisch kurzer Dauer sein: Phase eins nach der Wiedervereinigung war zur raschen Vergänglichkeit vorherbestimmt, genau wie beispielsweise auch Phase eins des postsowjetischen Russlands (die 1990er Jahre). Und wie im Falle des postsowjetischen Russlands war die wirklich spannende Frage immer, wie Phase zwei aussehen würde, während diejenigen, die glaubten, es im Voraus zu wissen, Gefahr liefen, von der Geschichte eines Besseren belehrt zu werden. (Erinnern Sie sich an die einst beliebte Idee, dass Russland sich „im Übergang“ zu einer geopolitisch gefügigen Kopie eines imaginären westlichen Standardmodells befände? Nein? Keine Sorge. Das tut auch sonst niemand.)
Doch nun schreiben wir das Jahr 2024. Über ein Dritteljahrhundert ist seit der deutschen Wiedervereinigung vergangen. Gerhard Schröder und Angela Merkel, beide Personifikationen dieser trügerisch beständigen Phase-1-Version des Nachvereinigungsdeutschlands, sind Geschichte. Die langfristige Perspektive ist jetzt, und die Konturen des neuen Deutschlands zeichnen sich ab.
Manche sind kontraintuitiv: Statt einer neuen Macht im Zentrum Europas, die nach Jahrzehnten doppelter Abhängigkeit im Kalten Krieg versucht, einen eigenen destabilisierenden Kurs zu steuern, ist das neue Deutschland seiner amerikanischen Hegemonie destabilisierend unterwürfig, bis hin zur Selbstdeindustrialisierung. Statt eines Wiederauflebens des traditionellen Nationalismus unter rechten Regierungen erleben wir den Aufstieg einer neuen Art nationaler Hybris. Die Bannerträger dieses grünen Neowilhelminismus, wie etwa die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, verbinden ein engstirniges Gefühl der „Werte“-Überlegenheit mit einer aggressiven Weigerung, Länder, die ihren provinziellen Standards nicht entsprechen, als souveräne Gleichgestellte zu behandeln: Die Georgische Regierung ist gerade aufgefordert worden, ein Gesetz, das rechtmäßig erlassen und verabschiedet wurde, „zurückzunehmen“. Und schließlich hat sich das neue Deutschland nicht zu einer disruptiven Kraft der Innovation und industriellen Wettbewerbsfähigkeit entwickelt, wie dies nach der deutschen Vereinigung von 1871 der Fall war.
Wie sich herausstellt, ist die Geschichte nicht nur eine strenge Lehrerin, sondern auch voller Überraschungen. Und doch gibt es einen Bereich, in dem etwas Erwartbares zu geschehen scheint, auch wenn es neue und ungewohnte Formen annimmt: Militarismus. Zweifellos mag der Begriff zumindest im Moment übertrieben erscheinen. Schließlich hat sich der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius gerade gezwungen gesehen, die Pläne zur Wiedereinführung der 2011 abgeschafften Wehrpflicht größtenteils – wenn auch nicht vollständig – aufzugeben.
Auch die Größe der deutschen Streitkräfte – der Bundeswehr – liegt weit unter den Zahlen des letzten Kalten Krieges: Sie verfügen derzeit über etwa 182.000 uniformierte und zusätzlich 81.000 zivile Kräfte . Zum Vergleich: Zwischen den frühen 1970er- und den frühen 1990er-Jahren zählte die westdeutsche Armee – damals schwer bewaffnet – rund 500.000 Soldaten. Im Kriegsfall plante sie, Reserven zu mobilisieren und 1,3 Millionen Soldaten ins Feld zu schicken . Während das Deutschland des Kalten Krieges ein Land mit über 700 Kasernen war, sind es heute nur noch 250 .
Und diese Zahlen – die in den aktuellen deutschen Debatten als ständige Bezugspunkte dienen – erfassen nur das ehemalige Westdeutschland. Da das neue Deutschland aber das ehemalige Ostdeutschland absorbiert hat, muss ein historisch realistischer Vergleich auch dessen Streitkräfte berücksichtigen. In den 1980er Jahren bestand die Nationale Volksarmee der DDR aus einer ebenfalls sehr gut ausgerüsteten Friedensarmee von etwa 180.000 Soldaten und Offizieren. Im Kriegsfall war eine halbe Million das Ziel.
Insgesamt hielten die Deutschen also in der Spätphase des Kalten Krieges zu jedem beliebigen Zeitpunkt fast 700.000 Soldaten unter Waffen. Hätte man jemals Krieg geführt – ironischerweise gegeneinander und im Dienste der jeweiligen Vormächte –, hätten die Mobilisierungspläne fast zwei Millionen Deutsche in die Schlacht ziehen lassen. Wenn Boris Pistorius auf diese jüngste Geschichte zurückblickt, muss er sich arg benachteiligt fühlen: Wie Der Spiegel berichtet, wird der Plan, in seinem Deutschland bis 2031 203.000 Soldaten (und Frauen, die derzeit 13 Prozent der Truppen ausmachen) in Uniform aufzubieten, wahrscheinlich nicht einmal annähernd erfolgreich sein .
Dabei gibt es aber auch ein Problem, das die Bundeswehr nicht hat: Umfragen zeigen immer wieder, dass es ihr an Unterstützung in der Bevölkerung nicht mangelt. Einer Studie im Auftrag des Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 2023 zufolge hatten fast 90 Prozent der Befragten eine positive Einstellung zur Bundeswehr. In diesem Jahr sind zwei Drittel der Deutschen für mehr Militärausgaben , obwohl – wie so oft – die Bereitschaft, tatsächlich dafür zu zahlen, weniger ausgeprägt ist: 56 Prozent sind gegen zusätzliche Staatsschulden zur Finanzierung dieser Politik.
Selbst in der Frage der Wiedereinführung der Wehrpflicht ist die öffentliche Meinung weitgehend pro-militärisch: Im Januar 2024 sprachen sich knapp über die Hälfte der Befragten dafür aus , obwohl jüngere Deutsche, kaum überraschend, weniger begeistert sind. Auch Pistorius selbst kann sich nicht beklagen: Er führt seit Monaten die bundesweiten Beliebtheitsrankings an und gilt als plausibler Kandidat für die Nachfolge des zutiefst unbeliebten Olaf Scholz als Kanzler.
Abgesehen von der ungewöhnlich hohen Popularität eines Verteidigungsministers, der gerne Uniform trägt und mit Soldaten posiert, aber kaum politische Erfolge vorzuweisen hat, wäre es noch verfrüht, diese allgemein positive Einstellung gegenüber der Bundeswehr als Zeichen des Militarismus zu betrachten. Man kann sie mit mindestens ebenso großer Plausibilität als Ausdruck eines recht normalen Verlangens nach nationaler Sicherheit und bestimmter konservativer Werte interpretieren, die in vielen Gesellschaften vorhanden sind.
Doch gleichzeitig führen die deutschen Eliten – in der Politik und in den Mainstream-Medien – eine hartnäckige Kampagne, um diese positive Einstellung gegenüber dem Militär in etwas anderes zu verwandeln. Nehmen wir zum Beispiel Deutschlands führendes Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Einst eine Bastion kritischen, wenn auch gemäßigten linksliberalen Journalismus, hat sich der Spiegel längst in eine Plattform für NATO-Propaganda und eines extremen, kriegssüchtigen Zentrismus verwandelt.
Ein kürzlich erschienener Artikel mit dem Titel „Die Angst vor dem Großen Krieg“ beginnt mit einem Seitenhieb auf Bundeskanzler Olaf Scholz, weil der für den Spiegel noch nicht kriegslüstern genug ist. Während namentlich nicht genannte Vertreter der baltischen Staaten Berlin im Grunde erpressen, indem sie drohen, die NATO in einen offenen Krieg mit Russland zu ziehen, ist für den Spiegel das Problem nicht der Versuch der Balten, Deutschland unter Druck zu setzen, sondern Scholz‘s Zögern, sich sofort zu unterwerfen.
Die Leser erfahren auch wieder einmal, dass die Hilfe für die Ukraine – trotz der katastrophalen militärischen Lage – aufgestockt werden muss, und zwar im Prinzip ohne Grenzen, denn wenn Russland in der Ukraine siegen würde, dann würde es sich damit nicht zufrieden geben, so das durch und durch faktenfreie aber äußerst beliebte Argument. Jeglicher Gedanke, echte Verhandlungen und Diplomatie einzusetzen, wird derweil schnell – und ziemlich unterwürfig – als Unsinn abgetan, über den die Obrigkeit in der Person des Verteidigungsministers nur den Kopf schütteln kann. So viel zur kritischen Distanz.
So durchsichtig und plump dieser Mobilisierungsjournalismus auch sein mag, so wichtig ist es doch, ihn nicht zu unterschätzen. Insbesondere die endlos wiederholte Behauptung, Russland werde über die Ukraine hinausgehen, ist ein Kernelement der Medienkampagne, die Angst als Instrument zur psychologischen Remilitarisierung der deutschen Öffentlichkeit einzusetzen.
Angst ist hier wörtlich zu verstehen. Beispiel: ein kürzliches Interview mit Generalleutnant André Bodemann , dem deutschen Offizier, der die Entwicklung eines neuen, umfassenden Mobilisierungskonzepts namens OPLAN DEU leitet. Bodemann wirkt wie ein gewissenhafter und gründlicher Militärplaner, wie man ihn braucht, um ein detailliertes Dokument von derzeit 1.000 Seiten zusammenzustellen, das im Voraus plant, was im Kriegsfall beispielsweise in den Bereichen Krankenhäuser und Logistik zu tun wäre.
Doch Bodemann ist auch haltlos. Kriegsplanung ist eine Notwendigkeit. Den deutschen Bürgern zu sagen, dass in Deutschland bereits kein Frieden herrscht, wie Boedmann es tut, ist sachlich falsch und durch und durch politisch. Bodemann mag zwar auf Anweisung von Politikern so auf den Putz hauen, aber es ist dennoch weder seine Aufgabe noch sein Recht, zu fordern, dass „jeder sein Verhalten ändern muss“, entsprechend seiner politisierten Darstellung – und Entstellung – der Sicherheitslage. Insbesondere, da er im selben Interview einräumt, dass die rechtlichen Aspekte – eigentlich die Grundlagen – seines Ansatzes noch geklärt werden müssen. Dies ist eine beunruhigende öffentliche Intervention eines Militäroffiziers. Noch beunruhigender ist die Tatsache, dass dies im neuen Deutschland als normal angesehen zu werden scheint.
Doch Angst ist nicht alles. Es gibt auch Versprechen von Sinn und sogar nationaler Zusammengehörigkeit. In einem kürzlich erschienenen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung , Deutschlands traditionell wichtigster konservativer Zeitung, wird die Frage aufgeworfen, ob Deutschland „kriegstüchtig“ sei. Der Autor besucht einen Stützpunkt der Bundeswehr, in einer Atmosphäre, die der von sowjetischen Journalisten, die, sagen wir, 1950 eine Kolchose besuchten, nicht ganz unähnlich ist: Berichterstattung im Marketing-Ton, durchsetzt mit ideologischer Belehrung.
Es ist wahr, dass wir das erfrischend offene Eingeständnis finden, dass die Politik Deutschlands – oder vielmehr des gesamten Westens – gegenüber der Ukraine bisher darin bestand, ukrainischen „Söhnen“ Waffen zu geben, um damit den gemeinsamen Feind – gemeint ist Russland, mit dem sich Deutschland nicht im Krieg befindet – zu töten, während deutschen Söhne zuhause blieben. So viel zum neuen Mobilmachungsgesetz in der Ukraine, das noch mehr „Söhne“ aus dem Land herauspresst.
Nach diesem Moment selbstenthüllender Ehrlichkeit begegnen die Leser jungen deutschen Besuchern des Stützpunkts, die eine fast komsomolsenhafte Begeisterung für die Armee zeigen: Hier sind si sozusagen: die deutschen „Söhne“ – und Töchter – bereit, in die Bresche zu springen. Und mit einem Hauch des stalinistischen Wunderknaben Pawel Morosow (der der Legende nach so gehorsam und fanatisch war, dass er seine eigene Verwandtschaft verriet) wird ihr Handeln gegen den Willen ihrer Eltern und die Skepsis ihrer Geschwister und Altersgenossen mit herablassendem Lob hervorgehoben.
Darüber hinaus wird der Dienst in der Bundeswehr auch als Instrument der nationalen Einheit verkauft. Der Kommandant des Stützpunkts erklärt, dass bei einem harten Nachtmarsch mit schwerer Ausrüstung alle Unterschiede zwischen Ost und West (also innerhalb Deutschlands) verschwinden: ein Gleichnis von Dunkelheit und wunden Füßen, auf das Mao stolz gewesen wäre. Doch dass ein hochrangiger deutscher Offizier und eine angesehene deutsche Zeitung die scheinbar anhaltenden Sorgen darüber, wie geeint das neue Deutschland wirklich ist, ausgerechnet mit dem Militär verknüpfen, ist für den Historiker alarmierend: Die Armee als „Schule der Nation“ und Sinnbild der Einheit? Wirklich?
Es ist vielleicht noch zu früh, vom Aufstieg eines neuen Militarismus in Deutschland zu sprechen. Doch es wäre naiv, nicht eine Häufung von Erschütterungen zu registrieren, die eine größere seismische Verschiebung im Selbstverständnis des neuen Deutschlands ankündigen könnten: Alte Hemmungen sind größtenteils verschwunden, und die Sphäre des Militärischen hat wieder begonnen, in die Sphäre von Politik und Öffentlichkeit einzusickern, und zwar auf eine Weise, die in der Geschichte nach der Wiedervereinigung beispiellos ist. Dies mag ein vorübergehender Moment sein. Aber es ist wahrscheinlicher, dass es sich um den Beginn eines Trends handelt, insbesondere da sich die deutschen Mainstream-Medien nahezu perfekt und auf beschämende Weise einig dabei sind, den Deutschen weiszumachen, dass es keine Alternative gäbe.
Great article, thank you; first time here after listening to your interview with Patrick Henningsen. I'd only point out the following: the polls you cite may or may not be accurate. In western "democratic" societies, polls are made to measure and constitute key element of the psychological operations against the public. When poll results show that the majority of Germans support the military and are in favor of conscription, these results are probably contrived for the pretense that the government is acting in accordance with the desires of the population. The polls are very probably fake. Western polling organizations have developped a veritable science of achieving desired results from public opinion surveys.
Interessanter Artikel, aber ich schreib' meinen Kommentar mal auf Englisch:
I think the major point behind this new militarism is that the Western Empire is currently reorganizing itself: America tries to reindustrailize and with the Inflation Reduction Act, it active promotes companies to move to the US and produce there. Due to the increasing green bullshit (calling it for what it is), high energy costs, etc, many companies now move from Germany to the US. Good for them, bad for us.
When the US reindustrailizes, the German industry becomes a competitor. That's why the US - or the forces behind their current administration - blew up Nord Stream, lobby the Green agenda.
This recession/deinstrialization is sold to the Germans as the price we have to pay to transform into a green economy to fight climate change (Notfalls auch im Alleingang!) and Russia. Germany shall give its industry to the US and in exchange, the US/Western elites allow Germany to rearm to become the superpower it hasn't been for quite a while. But in order to make sure that Germans don't switch sides because their industry needs Russian resources, the industry needs to go first.
I'm still in the progress of figuring this out, but I think this explains the things we are currently seeing in Germany best. Stop working, fight! The new Polish government now also works for these interests and gave up the plans of the former government to turn Poland into a regional power with its own sphere of influence.