Es kann noch schlimmer kommen
Falls Russland den Ukraine-Krieg nicht bald gewinnt, ist eine Eskalation zum Einsatz von Nuklearwaffen eine reale Möglichkeit.
Zuerst veröffentlicht auf Englisch, 6.5.2024
Moskau hat jetzt eindeutig die Initiative im Krieg zwischen Russland auf der einen und der Ukraine und – de facto, wenn auch (noch) indirekt – dem Westen auf der anderen Seite. Hohe ukrainische Beamte und Militärs – darunter der Oberbefehlshaber Oleksandr Syrsky und der stellvertretende Chef des Kiewer Militärgeheimdienstes Vadim Skibitsky – geben öffentlich zu, dass ihr Land in großen Schwierigkeiten steckt. Realistische Beobachter im Westen wie Brian Berletic und Alexander Mercouris und Alex Christoforou weisen zu Recht darauf hin, dass die Hilfsgelder des Westens diese Situation nicht ändern können, zum einen, weil es keine Möglichkeit gibt, Kiews Unterlegenheit bei und Mangel an Soldaten auszugleichen, und zum anderen, weil der Westen selbst nicht über die industriellen Ressourcen verfügt, um Hilfe in einem Umfang zu leisten, der einen wirklichen Unterschied machen würde.
Wir wissen auch, dass Russland große Reserven aufgebaut hat, die es noch nicht für den Kampf eingesetzt hat. Darüber hinaus hat es einen interessanten Wandel in der russischen Terminologie gegeben: Während der Begriff „Offensive“ lange Zeit gemieden wurde – während Russland Gebietsgewinne als Ergebnis „aktiver Verteidigung“ kategorisierte – taucht er nun offiziell auf . Der russische Verteidigungsminister soll von der Notwendigkeit gesprochen haben, die Lieferungen an die Front zu verstärken, um „das erforderliche Tempo der Offensive aufrechtzuerhalten“. Dies kann ein bewusstes Signal gewesen sein oder auch nicht. Es könnte auch eine einfache Möglichkeit sein, die Ukraine und den Westen im Unklaren zu lassen. Zusammen mit den jüngsten russischen Vorstößen zu Land und anderen Operationen – etwa Luftangriffen auf Odessa und Charkow/Charkiw – könnte diese neue Wortwahl jedoch durchaus bedeuten, dass Moskau entweder im Frühjahr oder im Sommer eine Großoffensive starten wird, wie viele Beobachter erwarten.
In einem vorstellbaren Szenario könnte der Krieg also noch in diesem Jahr mit einem Sieg Russlands enden. Das Ausmaß und die genaue politische Form eines solchen Sieges lassen sich nicht vorhersagen. Die Eroberung der gesamten Ukraine östlich des Dnieper (plus der westlich davon gelegenen Teile der Oblaste – Verwaltungsgebiete – Saporischschja und Cherson)? Die Einnahme großer Städte wie Odessa und Charkiw? Ein weiterer Angriff auf die Hauptstadt Kiew? Ebenso wenig können wir vorhersagen, was für eine Ukraine aus einem solchen russischen Sieg hervorgehen würde: Ein neutralisierter und von einem Regimewechsel geprägter Reststaat? Ein auf Rache sinnender und vom Westen fortwährend subventionierter Reststaat?
In einem zweiten Szenario, könnte der Krieg immer noch mit einem Verhandlungsfrieden enden. Angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten müsste dieser Frieden allerdings zu Gunsten Russlands ausgestaltet werden, was einem Sieg unter anderem Namen gleichkäme. Angesichts der anhaltenden Weigerung des Westens, einen echten und realistischen Kompromiss als Ausweg auch nur in Betracht zu ziehen, ist ein solches Szenario sehr unwahrscheinlich.
Es wäre unklug, ein drittes Szenario auszuschließen: Es stimmt, dass der Westen nicht über die Mittel verfügt, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Dennoch ist es wichtig, zwischen dieser Tatsache und dem, was westliche Führungen verstehen und anzuerkennen bereit sind, zu unterscheiden. Kurz gesagt, der Westen ist nicht rational und hat gerade in diesem Konflikt eine enorme Fähigkeit zum Wunschdenken an den Tag gelegt.
Daher sollten wir aufmerksam auf Anzeichen achten, die darauf hindeuten, dass der Westen diesen unnötigen Krieg weiter um Jahre verlängern will. Insbesondere in letzter Zeit gab es mehrere solcher besorgniserregenden Anzeichen. Drei davon möchte ich hier hervorheben:
Erstens hat der nationale Sicherheitsberater der Biden-Regierung, Jake Sullivan, erklärt, dass die Ukraine dieses Jahr im Wesentlichen „nur“ durchhalten sollte, damit der Westen sie im Jahr 2025 erneut ins Feld schicken kann, um eine weitere Offensive gegen Russland zu starten. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat von einem erneuten Angriffsversuch gesprochen, sofern sein Land mehr westliche Waffen erhält. Beide Aussagen sind unrealistisch, was bei weder Sullivan noch Zelensky eine Premiere ist – aber lassen wir das für einen Moment beiseite. Unsere Frage hier ist, welchen weiteren Schaden eine auf unrealistischen Annahmen basierende westliche Politik noch anrichten kann.
Zweitens hat die italienische Zeitung Republicca einen Artikel veröffentlicht – höchstwahrscheinlich basierend auf absichtlichen Leaks – der angeblich über interne NATO-Überlegungen zu „roten Linien“ in der Ukraine berichtet. Das heißt, unter welchen Umständen die NATO direkt eingreifen würde – und umgekehrt, unter welchen Umständen sie dies nicht tun würde. Im Wesentlichen lassen sich die so vermeldeten „roten Linien“ – wie sie in der ukrainischen Veröffentlichung Strana.ua zusammengefasst wurden – auf zwei reduzieren: Die NATO, so wird behauptet, erwägt ein direktes Eingreifen unter folgenden Bedingungen: Falls Belarus sich dem Krieg auf der Seite Russlands direkt anschliessen oder Russland einen weiteren Großangriff auf Kiev aus Belarus starten sollte; oder falls Russland über die Grenzen der Ukraine hinausgehen sollte, um entweder einen NATO-Mitgliedsstaat oder Moldawien anzugreifen, das zwar kein Mitglied, aber ein Ziel der NATO-Erweiterungspolitik ist.
Man könnte versucht sein, diese angeblichen „roten Linien“ der NATO als Anzeichen westlicher Hybris abzutun. So oder so, scheinen sie den Wunsch widerzuspiegeln, Russland von einer seiner potentiell gefährlichsten konventionellen Optionen abzuhalten, nämlich einem erneuten Angriff auf Kiew aus Belarus. Das deutet auf die Absicht hin, den Krieg sowohl „einzusperren“ als auch am Laufen zu halten.
Drittens versuchen die USA weiterhin, russisches Staatsvermögen in Höhe von rund 300 Milliarden Dollar zu konfiszieren, das derzeit in westlichen Banken eingefroren ist. Es ist ihnen bisher nicht gelungen, die Europäer davon zu überzeugen, sich an dieser Operation zu beteiligen, und allein kann Washington nicht mehr als ein paar Milliarden enteignen. Was hier zählt, ist jedoch die Absicht, nämlich das Äquivalent eines märchenhaften Goldtopfs zu finden, um den Stellvertreterkrieg in der Ukraine weiterhin zu finanzieren.
Diese und andere westliche Signale bleiben schwer zu deuten: Sie könnten eine Fassade aus Bluffs sein, die Russland davon abhalten sollen, seinen klaren militärischen Vorteil voll auszuspielen. In dem Fall, würde es sich also um einen verzweifelten Versuch des Westens handeln, sich aus einer klaren und schweren Niederlage herauszumogeln.
Doch trotz der Tatsache, dass all diese Ideen unrealistisch sind, könnten sie auch eine ernsthafte Absicht widerspiegeln, diesen Krieg in die Länge zu ziehen. Dahinter wiederum könnte die Vorstellung stecken, dass die erfolgreiche wirtschaftliche Mobilisierung Russlands auch Kosten verursacht und in der jetzigen Form möglicherweise auf Jahre hinaus schwer aufrechtzuerhalten sein wird. Das ist übrigens die „Message“ eines aktuellen Artikels der Financial Times, dem es, wie wir annehmen dürfen, nicht an politischer Inspiration gemangelt hat. Kurz gesagt, der Kern dieses Wunschdenkens besteht darin, den Krieg so lange andauern zu lassen, bis der Westen die Logik der Zermürbung gegen Russland umkehren kann.
Auch hier ist die Schlüsselfrage – im Hinblick auf den Schaden, den all dies anrichten kann – nicht, ob es „funktionieren“ könnte. Das kann es sehr wahrscheinlich nicht. Die Schlüsselfrage ist vielmehr, was passieren kann, wenn der Westen eine solche Politik versucht und scheitert. Und hier besteht das größte Risiko darin, dass Moskau, sollte es jemals zu der Überzeugung gelangen, dass der Westen mit einer neuen Kombination aus Stellvertreterkrieg und langfristiger Zermürbung Erfolg haben könnte, zu dem Schluss kommen könnte, diesen Plan zu durchkreuzen, unter anderem durch einen „begrenzten“ Einsatz nuklearer Waffen, um klarzustellen, dass es solche „neuen Spielregeln“ nicht akzeptieren wird.
Sobald jedoch auch nur eine „kleine“ – oder „taktische“ – Atombombe eingesetzt würde, wäre natürlich nicht abzusehen, wo die Eskalationsspiral enden würde. Es ist eine bizarre Vorstellung, dass wir einen Großteil der Menschheit auslöschen könnten, weil die Ukraine eine „offene Tür“ zur NATO brauchte, durch die sie jedoch eigentlich so oder so nie gehen sollte .